Mittwoch, 4. September 2013

Kleine Menschen und große Fragen

Die Abtreibung ist ein seit dem Erstarken der Frauenrechtsbewegung in den siebziger Jahren ein fruchtbarer Boden für hitzige und zuweilen polemische Debatten. Verständlich ist es in jedem Fall, schwingt das Pendel doch zwischen einerseits der (vertretbaren, aber falschen) Meinung, das täglich ein Massenmord an unschuldigen Kindern stattfindet und andererseits der (vertretbaren, aber falschen) Meinung, dass nur die Frau zu entscheiden hat, was mit ihrem Körper stattfindet. Viele Positionen und Argumente werden mit mehr oder weniger Verstand durch die Gegend geworfen. Wie ist es denn am Ende richtig? Nähern wir uns den Thesen an.

Mit der Verschmelzung von Eizelle und Spermium entsteht ein neues Leben. Ein Menschenleben ist aber schützenswert unabhängig von der Körpergröße und Entwicklungsstadium.

Das ist eine plakative Nebelkerze. Unklar ist nämlich, was hier mit dem Begriff "Leben" gemeint ist. Ein Individuum im Sinne von "einem von uns" bestimmt nicht, denn a) die frisch befruchtete Zelle kann sich in zwei oder mehr Embryonen teilen, b) zwei können verschmelzen, c) ein Teil der ersten Generation der Zellen wird gar nicht zum zukünftigen Organismus gehören, sondern zur Plazenta, d) aus dem Befruchtungsvorgang kann statt des Organismus ein Tumor entstehen usw. Wie ich hier schon einmal dargelegt habe, ist die Annahme verkehrt, wonach ich identisch bin mit der damals befruchteten Eizelle. Diese ist eine andere Entität, aus der "ich" dann erwachse. Was mit der Verschmelzung entsteht, ist eine Zelle mit einem DNA-Chromosomensatz, der vorher nicht existierte, mehr nicht. Diese wächst in den kommenden Tagen zu einem Gewebe mit Erbanlagen eines Homo Sapiens heran.

Ein neuer Mensch dagegen entsteht, wenn der Begriff überhaupt irgendeinen Sinn ergeben soll, erst dann wenn Ansätze von Organen und zumindest grundlegende Funktionen des Gehirns vorhanden sind, also einige Wochen später. Dann beginnt tatsächlich so etwas wie ein Lebewesen seine Existenz. Damit ist aber nicht gesagt, dass es denselben moralischen Status hat wie ein Erwachsener.


Ja, welchen Status hat es denn? Es gibt keine moralisch relevante Grenze, ab der das ungeborene Kind magisch einen Quantensprung in seiner ethischen Wertigkeit macht. Die Geburt wechselt nur den "Wohnort".

Richtig. Es ist ein fortschreitender Prozess der Entwicklung. Ein Fötus ist genausoviel "wert" drei Tage vor wie drei Tage nach der Geburt. Das heißt nicht, dass es im Alter von 3 Wochen genausoviel wert ist. In einem graduellen Vorgang unterscheidet sich der Anfangs- von dem Endpunkt trotzdem eklatant, wie jeder weiß, der in einem Zeitraum von 10 Jahren zunehmend seine Kopfhaare verloren hat.

Damit ist aber gesagt, dass es mehr oder weniger wertvolle Menschen gebe - eine Nazi-Ideologie. Jeder Mensch ist gleich viel wert - in absoluter Form.

Auch das ist eine Nebelkerze. Denn diese Denkweise bezieht sich ausdrücklich nur auf Menschen und setzt mithin voraus, dass die DNA eines Menschen irgendwie "besonders" ist. Niemand hat offensichtlich damit ein Problem, eine Spinne zu töten oder eine Blume zu pflücken, obwohl man damit "Leben" vernichtet. Wo ist der Unterschied? Diese Einstellung läuft darauf hinaus, dass das Vorhandensein eines Chromosomensatzes, den Wissenschaftler nach dem im Moment zufällig vorhandenen Stand der Katalogisierung der aktuell "Homo Sapiens" genannten Spezies zuordnen, einem plötzlich einen ungeahnten ethischen Vorsprung gegenüber allen Millionen von Wesen mit anderen genetischen Anlagen verschafft. Diese Ansicht ist anders als religiös kaum zu erklären und knüpft an ein rein biologisches Merkmal an. Danach müsste man, wenn man einen Neanderthaler oder gar einen besonders hochbegabten Schimpansen vor sich hätte, ihnen diesen besonderen Schutz verweigern, weil sie - Pech gehabt - nicht zu unserer Spezies zählen. Ethik schützt Interessen, Präferenzen, Gefühle, Wünsche - sie schützt keine Gen-Kombinationen. Deshalb ist eine Unterscheidung zwischen "Sklaven-" und "Herrenmenschen" Unsinn, die Unterscheidung zwischen einem Wesen mit und einem ohne (oder nur mit einem primitiven) Gehirn aber richtig. Die Ansicht, die Menschen allein aufgrund des irrelevanten Kriteriums ihrer DNA-Zusammensetzung besonders qualifiziert, wird Speziesismus genannt und ist ethisch auf derselben Stufe mit Sexismus und Rassismus.

Ein Embryo mag zwar noch kein ausgebildetes Gehirn haben. Aber er hat das Potential, zukünftig eins zu bekommen. Die Abtreibung nähme ihm daher diese Möglichkeit weg!

Dieses beliebte Argument passt erstens tatsächlich nur auf die Schwangerschaft, nicht aber auf künstlich erzeugte Embryos im Reagenzglas. Diese haben nicht das geringste Potential, ohne aufwendiges menschliches Zutun irgendwas zu werden. Zweitens gibt es keinen Grundsatz, wonach ein Potential mich bereits jetzt in die Rechtsposition versetzt, die ich später haben werde. Ich werde später Rentner sein, habe jetzt aber noch keinen Anspruch auf Rentenzahlung. Drittens ist dieses Argument nach hinten grundsätzlich offen: Wenn das Spermium an die Eizelle andockt, wenn das Spermium zur Eizelle schwimmt, ja sogar wenn Mann und Frau beschließen Sex zu haben - all das hat, rein kausal gedacht, ein "Potential" zur Entstehung des neuen menschlichen Wesens. Konsequent zu Ende reflektiert, ließe sich daraus sogar eine allgemeine Bürgerpflicht zum Geschlechtsverkehr konstruieren, damit man das in uns allen innewohnende Potential zur Schaffung von Babies nicht vereitle.

Die Frau hat das alleinige Recht zu entscheiden, was mit ihrem Körper passiert.

Es geht aber nicht immer nur um ihren Körper, sondern - ab einem gewissen Zeitpunkt an, s.o. - um einen weiteren Organismus oder sogar um ein weiteres Wesen mit rudimentärem Bewusstsein, das berücksichtigt werden muss. Dieses hat nach dem oben Gesagten aber einen geringeren moralischen Status und verliert in der Abwägung der Interessen daher meistens.

Niemand hat nicht das Recht, sich monatelang des Körpers eines Anderen zu bedienen ohne dessen Zustimmung.

Dieser in der Form des Geiger-Arguments berühmt gewordene Einwand ist im Grunde überzeugend. Egal wie schlecht es mir geht - ich kann nicht im Ernst verlangen, dass ein anderer seinen Körper für meine Zwecke hingibt. Der Gedanke funktioniert natürlich nur dann, wenn die Frau nicht selbst wissentlich die Gefahr einer Schwangerschaft gesetzt hat - also nur in den Fällen einer Vergewaltigung. In allen anderen Fällen besteht zwischen ihr und dem Ungeborenen ein besonderes Schutzverhältnis - im Grunde so wie wenn man einem Haustier gegenüber weiter gehende Pflichten hat als gegenüber einem Straßenhund.

Und nu? Was schlägst Du vor als Richtlinie?

Nach dem oben Gesagten dieses: Im Falle einer Vergewaltigung gibt es keinen Grund, der Frau die Prozedur zu verweigern. Im Übrigen gilt - soweit die befruchtete Eizelle überhaupt zu einem primitiven Organismus und dann zu einem Wesen mit zunehmendem mentalem Leben gereift ist, wächst auch ihr moralischer Wert in der Abwägung mit den Interessen der Mutter. Entscheidend sind dabei geistige Fähigkeiten wie Schmerzempfinden, Bewusstsein und das Spüren von Lust und Leid. Je älter das ungeborene Kind wird, um so eher nähert es sich in der ethischen Bewertung einem höheren Wirbeltier - und wie das Tier hat es auch eigene schützenswerte Interessen, die mit den Interessen der Mutter abgewogen werden müssten. Einen 5 Monate alten Fötus abzutreiben, allein um aus kosmetischen Erwägungen Schwangerschaftsstreifen zu vermeiden, wäre daher moralisches Unrecht. Wie ein erwachsener Mensch mit dem üblichen reichen inneren Leben kann er aber keinesfalls behandelt werden - in diesem Sinne ist Größe also doch manchmal entscheidend.