Samstag, 23. Januar 2010

Das Ding an sich

Die Welt, die uns umgibt, ist mit allerlei Zeug gefüllt. Richtiges Vakuum muss mit hohem Aufwand mühselig hergestellt werden; in der freien Natur gibt es das fast nie - höchstens in der intergalaktischen Ödnis, wo nur ca. ein einziges Atom pro Quadratmeter vorkommt. Ansonsten wimmelt es überall von Materie - und seien es Gase wie unsere liebe Luft. Vor dem Entstehen des Universums war gar nichts da - weder Raum noch Materie - und danach plötzlich gab es etwas. Einen radikaleren Wechsel als von Nichts zu Etwas kann man sich kaum vorstellen. Und so fragt man sich zuweilen - was ist das alles um mich herum eigentlich genau? Woraus besteht das Kant'sche Ding an sich?

Nun, das kommt darauf an, wen man fragt.

Fragt man den Physiker, so würde er gar keine Antwort geben: Schon immer hat man sich gefragt, was passieren würde, wenn man Sachen immer weiter zerteilte. Dem Philosophen Demokrit schwante es, dass der Prozess irgendwann stoppen müsste, und er postulierte aus dem Ärmel heraus ein Grundelement, das nicht weiter geteilt werden konnte, und nannte es atomos, das "Unzerschneidbare". Zwei Jahrtausende später stellte sich experimentell heraus: So unzerschneidbar waren die Atome gar nicht: Sie hatten einen Kern und eine Hülle. Der Kern "zerfiel" dann weiter in Protonen und Neutronen, diese dann später in Quarks. Nun aber habe man das ultimative, nicht teilbare Elementarteilchen gefunden, dachte man. Doch nein, die sollen nun nach der Stringtheorie aus kleinen schwingenden "Fäden" bestehen, deren Länge etwa um so viel kleiner als ein Staubkorn ist, wie dieses kleiner ist als das gesamte Universum. Da diese so winzig sind, außerdem nur in einem Raum mit elf Dimensionen mathematisch beschrieben werden können, und der Mensch sich dies schlicht nicht vorstellen kann, helfen die Strings bei der Frage der Anschaulichkeit nicht weiter. Wie auch generell in der Quantenphysik gilt hier: Je kleiner das Objekt, um so weniger hat sein Verhalten und "Aussehen" mit dem gesunden Menschenverstand zu tun. Wir sind einfach zu beschränkt, um zu begreifen, woraus Materie "eigentlich" besteht.

Fragt man den Nihilisten, würde er sagen: Aus nichts. Und damit hat er Recht - denn die Atome bestehen zum großen Teil aus leeren Raum. Der sich in der Mitte befindliche Atomkern wird von Elektronen umkreist, und dazwischen ist - gähnende Leere! Nach einem geläufigen Größenvergleich wäre bei einem Atomkern in der Größe eines Stecknadelkopfes die Hülle so groß wie ein Fußballfeld. Es ist schwierig, sich davon zu überzeugen, dass der Hammer, mit dem man sich gerade auf den Daumen gehauen hat, weitestgehend aus gar nichts besteht, doch es ist so.

Fragt man den Pessimisten, so könnte er entgegnen: Aus Abfall. Und auch das ist - düstere Weltsicht vorausgesetzt - nicht von der Hand zu weisen. Denn beim Urknall entstand Materie und Antimaterie - wäre da alles mit rechten Dingen zugegangen, würden beide sich beim Kontakt miteinander gemäß dem normalen Lauf der Dinge annihilieren. Das Universum würde, kaum entstanden, sich spektakulär in einem Meer von Licht auflösen. Aus irgendwelchem rätselhaften Grund gab es aber zufällig ein bisschen mehr Materie als Antimaterie. Das Feuerwerk verglühte so nicht vollständig, es blieben ein paar Restposten übrig, Brocken und Klumpen, die seitdem durch den Raum geistern. Diese Restposten bilden nun das ganze sichtbare Universum. Kosmischer Abfall, nicht benutzte Munition für die luminöse Party an Beginn des Seins.

Und so wäre Kant mit seiner Frage nach dem "Ding an sich" auch zwei Jahrhunderte später nicht wirklich schlauer geworden als damals. Und da man sich ein Nichts im vollen Sinne dieses Wortes ohnehin nicht bildlich vorstellen kann (denn da müsste man auch sich selbst, den Betrachter wegdenken), kann man die Materie, was auch immer sie "ist", lediglich als gegeben dankbar annehmen. Außer man haut sich mit dem Hammer den Daumen platt.