Samstag, 15. November 2008

Der Oldtimer, der ich bin

Heute fühle ich mich verlassen. Und zwar nicht etwa von einer Frau, einem guten Freund oder von allen guten Geistern. Viel schlimmer. Ich fühle mich verlassen von der Evolution höchst selbst. Jetzt, wo ich 30 Jahre alt bin, bin ich nämlich den Urkräften der natürlichen Selektion, die diese unvorstellbare Vielfalt an Lebewesen hervorgebracht haben, ziemlich egal geworden. Ab jetzt ist meine Gesundheit und mein leibliches Wohlergehen gewissermaßen auf Autopilot gestellt - ob ich in fünf oder fünfzig Jahren sterbe, ist der Natur gleich. Dabei war es noch vor 5 Jahren ganz anders.

Das Altern eines Lebewesens ist gar nicht so selbstverständlich. Es gibt Kreaturen, die - wirklich!- unsterblich sind. Einfach ist es bei den Einzellern, die sich ja nur teilen, aber nie sterben. Wenn also Umwelteinflüsse günstig sind, ist es denkbar, dass eine konkrete Mikrobe von der letzten Eiszeit bis zum heutigen Tag überlebt hat. Interessant ist auch das Leben dieses Kollegen hier - der Polyp unterzieht sich regelmäßig einfach einer eingebauten Verjüngungskur und wird wieder zum Teenager. Wir Menschen sind aber etwas komplizierter gebaut - und damit sterblich (auch wenn neuerdings Fälle bekannt werden, in denen das Altern anscheinend nicht voranschreitet).

Wenn wir uns fragen, warum wir altern, dann ist die Frage falsch gestellt. Richtig wäre zu fragen, warum der durch Evolution entstandene Körper die Anstrengung unternehmen sollte, das Altern zu verhindern. Gene, die nicht nur auf blinde Teilung setzen wie die Einzellergene, haben ja grundsätzlich zwei Möglichkeiten lange zu überleben - indem sie ihren Körper zwingen, ewig zu leben, oder indem der Körper Nachkommen mit ebendiesen Genen produzieren soll. Sie können den Körper also zum einen zu einer Überlebensmaschine mit Schutzmechanismen gegen schädliche äußere Einflüsse (Raubtiere, Hunger, Krankheiten, Wetterkapriolen) und einem perfekten Stoffwechsel ohne giftige Nebeneffekte ausstatten. Ziemlich viele Investitionen also. Oder sie können Qualität durch Quantität ersetzen und auf das Motto setzen "Wenn mein Körper nur rechtzeitig genügend lebensfähige Nachkommen produziert, die ihrerseits die Gene weitergeben, ist mir sein weiteres Überleben wurscht." Genau für diese zweite Möglichkeit haben sich die Gene bei den höheren Lebewesen "entschieden". Unser Körper ist also dazu da, möglichst schnell Nachkommen zu erzeugen und sie lebensfähig zu machen. Danach ist er unseren Genen egal. Die entsprechende biologische Theorie heißt denn auch wenig schmeichelhaft "Disposable soma theory" (zu Deutsch etwa: Theorie des entbehrlichen Körpers). Da aber die in natürlicher Umgebung bei primitiven Stämmen beobachtete durchschnittliche Lebensdauer aufgrund externer Faktoren bei etwa 30 Jahren liegt, hat sich der menschliche Körper wohl auch darauf eingeschossen - Geschlechtsreife mit 14-15 Jahren, dann möglichst schnell Kinder kriegen, sie ernähren, so die Weitergabe der Gene sichern, und dann ist der Körper nur noch ein Oldtimer-Auto: Die Nachfolge-Generation ist da, er selbst fährt zwar noch, aber wie weit und wie lange er es schafft, ist seine Sache. Er hat nurmehr einen nostalgischen Wert, repariert wird er notdürftig, es gibt Wichtigeres zu tun.

Der sexuelle Trieb ist deswegen auch der stärkere als etwa der Trieb, sich gesund zu ernähren. Nicht umsonst verursachen Männer Verkehrsunfälle, wenn sie einen Minirock sehen, nicht aber, wenn sie an einem Poster mit Bio-Essen vorbeifahren. Hohes Alter zu erreichen, ist den Genen schlicht egal. Und da ich jetzt an diese Altersgrenze der genetischen Wichtigkeit gekommen bin, fühle ich mich von den Kräften der natürlichen Selektion, die einem Lebewesen ja eine gehörige Fitness zum Überleben bescheren, verlassen. Traurig, ein Oldtimer zu sein.

Was tun? Sterben oder altern möchte ich jedenfalls nicht sofort, und so schaut man sich nach Lösungsstrategien um. Bisher ist der einzige nachgewiesene Ansatz die Kalorienbegrenzung, die das Leben nachweislich verlängert. Für eine kleine Portion Extra-Jahre reicht es auch, glücklich oder verheiratet zu sein (oder beides, was gelegentlich vorkommen soll) oder aber sich selbst jünger vorzustellen. Die mikrozellulären und -biologischen Ursachen für das Altern sind im Übrigen inzwischen auch bekannt. Es sind vor allem Verschleißerscheinungen (intra- und extrazellulärer Müll, Mutationen in den Mitochondrien, die Verkürzung von Telomeren bei jeder Zellteilung) - also nichts grundsätzlich Irreversibles, ein eher technisches Problem. Einige ernstzunehmende Wissenschaftler, darunter der Futurologe Ray Kurzweil und der Biogerontologe Aubrey de Grey haben dem Altern deshalb den Kampf angesagt. De Grey ist der Auffassung, dass bei gehöriger Anstrengung man in einigen Dekaden das Altern anhalten und schlussendlich umkehren können wird. Für ihn ist das Altern eine Krankheit, ein Übel, das täglich ca. 100.000 Menschen sterben lässt. Eine andere Frage ist, ob Unsterblichkeit eine gute Sache ist. Aber de Grey hat Recht, indem er sagt, dass wir erst einmal forschen und dann, wenn wir die entsprechenden Technologien haben, die Menschen entscheiden lassen sollen, ob sie sie in Anspruch nehmen. Gesünder und vitaler würde diese Forschung die Menschen auf jeden Fall machen. Vielleicht reicht es ja, wenn man, wie Luis Bunuel mal scherzte, alle zehn Jahre mal kurz aufwacht, die Zeitung liest und staunt.

Zu schön, um wahr zu sein? In der Zeitschrift "Technology Review" wurde ein Wettbewerb ausgerufen, um de Greys Thesen zu widerlegen. Bisher hat es noch niemand geschafft. Andererseits wurde von seiner "Methuselah-Stiftung" ein Preis an eine Forschungsgruppe aus Illionis vergeben, denen es gelungen war, Mäuse mehr als anderthalbmal so lange leben zu lassen als sonst. Bei Menschen wären dies 180 Jahre gewesen.