Dienstag, 7. Oktober 2008

Ein ganz banaler Held




Dieses Video zeigt einen Verkehrsunfall, der im Mai 2008 in Hartford, Connecticut, USA, passiert ist. Man sieht einen älteren Mann, wie er von einem Auto erfasst wird und auf der Fahrbahn liegen bleibt. Mehr als eine Minute lang passiert nichts. Menschen gehen am Unfallort vorbei, Autos fahren fröhlich ihres Wegs, ein Rollerfahrer macht sogar einen eleganten Bogen um den Schwerverletzten herum, nur um anschließend zu verschwinden. Irgendwann kommt die Polizei, bis dahin hat niemand sich dem armen Mann auch nur genähert. Alle stehen und glotzen nur. Ein ähnlicher Fall geschah vor kurzem in China.

Erschreckend, oder? Der Polizeichef sah sich denn auch veranlasst zu sagen: "We have lost our moral compass". Doch ist das wirklich so? Nun, nicht unbedingt. Dieses Verhalten, wie unangenehm es uns auch erscheinen mag, ist in gewissem Sinne "normal". Denn es gibt (neben der Religion) etwas sehr Mächtiges, das gute Menschen dazu bringen kann, Böses zu tun: die Situation.

Die unglaubliche Kraft der Situation ist den Psychologen seit etwa einem halben Jahrhundert bekannt. Viele Experimente sind durchgeführt worden, die zeigten, wie weit Menschen gehen, um sich den jeweils herrschenden Umständen anzupassen, nicht aufzufallen, "normal" zu agieren, so zu sein wie alle. Es fing alles harmlos an, als Solomon Asch 1951 demonstrierte, dass Versuchspersonen eine einfache Frage ersichtlich falsch beantworteten, nur weil der Rest der Gruppe, in der sie sich befanden (alles eingeweihte Strohmänner), ebenfalls falsch antworteten. Wenn es alle sagen, dann sage ich das auch. Asch war später der Doktorvater von Stanley Milgram, der 1962 die Welt schockierte. In seiner Versuchsanordnung waren Menschen bereit, einen anderen auf eine zum Teil sadistische Weise zu quälen und sogar in Todesgefahr zu bringen, weil es "das Experiment erforderte" und der Versuchsleiter tat, als wäre alles in Ordnung. Weiter ging es neun Jahre später mit dem Gefängnis-Experiment von Philip Zimbardo, einem Studienfreund Milgrams, in dem normale Studenten zu brutalen Bestien wurden, weil man sie in Uniformen gesteckt und in einen improvisierten Knast als Aufseher hat arbeiten lassen. Derselbe Zimbardo führte auch das "Broken Windows"-Experiment in Palo Alto durch: Solange ein verlassenes Auto unberührt auf der Straße stand, passierte nichts; jedoch fielen Passanten über das Auto her und demolierten es, sobald Zimbardos Studenten den "ersten Schlag" geführt hatten - ab dann war der Vandalismus ja scheinbar "normal". Den Gipfel des situativ bedingten Wahnsinns belegten die Psychologen Darley und Latane 1968: In ihrem Versuch waren 90 % der Menschen bereit, sogar ihr eigenes Leben in höchste Gefahr zu bringen, nur weil es situationsadäquates Verhalten war. Sie saßen in einem Raum, in den plötzlich Unmengen von Rauch eindrangen. Da die anderen Personen im Raum (Eingeweihte) keine Reaktion zeigten, schlugen auch die Versuchspersonen keinen Alarm und blieben im Raum sitzen. Wäre es ein echter Rauch gewesen, wären sie ausnahmslos erstickt.

Die Kraft der Situation ist also immens hoch. Ebenjener Philip Zimbardo, der Autor des Gefängnis-Experiments, schlägt deshalb eine neue Definition eines "Helden" vor: Ein Held ist nicht, wie wir ihn uns vorstellen, ein Ritter hoch zu Ross mit wehenden Haaren, gutem Aussehen und übermenschlichen Kräften. Er ist kein Super- oder Spiderman. Er muss nicht gleich einem auf die U-Bahn-Gleise gefallenen bewusstlosen Studenten hinterherspringen, um ihn zu retten. Held zu sein ist, wie Zimbardo sagt, ganz "banal". Es reicht, wenn man ein durschnittlicher Mensch ist, der einmal im Leben, wenn es nötig ist, die Mauern der situativ bedingten Starre und Gleichgültigkeit durchbricht, etwas macht, was andere nicht machen, und zum Beispiel einem alten auf der Fahrbahn liegenden verletzten Mann hilft, wenn Schaulustige nur glotzen. Es ist so einfach, wenn darüber nachdenkt. Die Menschen sollten eine Situation kontrollieren, nicht umgekehrt.