Mittwoch, 9. Januar 2008

Von Äxten, Schiffen und Seelen

"Das ist die Axt meines Großvaters", pflegen Amerikaner manchmal zu sagen. "Ihr Kopf wurde zwar schon dreimal ausgetauscht und ihr Griff viermal, aber es ist immer noch dieselbe gute alte Axt meines Großvaters". Dieser augenzwinkernde Spruch ist eine gute Einführung in das Problem der Identität. Was meinen wir, wenn wir "dasselbe" sagen? Und was muss man verändern, damit "dasselbe" zu lediglich "dem Gleichen" wird? Eine ältere, etwas zivilisiertere Variante der Fragestellung ist neben vielen anderen Metaphern das sog. Schiff des Theseus, bekannt geworden in einem Werk von Thomas Hobbes, aber erdacht wahrscheinlich schon von Plutarch. Nehmen wir an, es fährt ein Schiff aus dem Hafen A. Während es segelt, verrotten nach und nach alle Planken, aus denen es besteht. Sie werden jedoch dann umgehend durch neue ersetzt. Als das Schiff im Hafen B ankommt, besteht das Schiff aus keiner einzigen "Original-Planke" mehr, da alle inzwischen durch neue ausgetauscht wurden. - Ist es immer noch "dasselbe Schiff"? Wenn man aus den neuen Bauteilen gleich am Anfang ein zweites Schiff gebaut hätte, würden wir bestimmt sagen - nein, es sei nicht dasselbe Schiff, nur ein baugleiches. Aber wenn die Planken nach und nach in das alte Schiff eingebaut werden, wie in unserem Beispiel, dann tendieren die meisten dazu zu sagen, das ankommende Schiff im Hafen B sei dasselbe. Warum? - Es hat dieselbe Identität, dieselbe Geschichte.

"Ich" ist eins der meistbenutzen Worte in unserer Sprache, doch was meinen wir eigentlich damit? Was veranlasst uns dazu zu sagen, wir sind "derselbe Mensch wie vor einem Jahr"? Unser Körper? - bestimmt nicht. Denn wie im Schiff des Theseus wird unser "Baumaterial" regelmäßig erneuert - alte Zellen sterben ab, neue entstehen an ihrer Stelle, die genauso aussehen und genau dieselbe Funktion erfüllen - wie die Bretter des Schiffs. Unser Körper - und das ist die gute Nachricht für alle, die nicht altern wollen - wird nie älter als 7 - 10 Jahre. Lediglich einige Nervenzellen im Gehirn bleiben immer die alten. Statistisch gesehen sind sie jedoch vernachlässigenswert. Und selbst in diesen "änderungsresistenten" Zellen werden die Bausteine - organische Moleküle - immer wieder ausgetauscht. Einer konstanten Körperlichkeit würden wir also vergeblich hinterherjagen - die gibt es nicht. Zudem würde sie unserem Bild vom "Ich", dem denkenden, fühlenden Wesen, das jeder von uns ist, nicht gerecht werden. Denn ohne Bewusstsein sind wir nichts als austauschbares organisches Gewebe.

Bei den sog. "siamesischen Zwillingen" denken wir alle zu Recht, dass zwei Ichs in einem Körper vereint sind. Unsere Identität und Individualität hat demnach nur indirekt etwas mit unseren Körpern zu tun - entscheidend ist der Geist. Das "Ich" als Person entsteht frühestens, wenn das Bewusstsen einsetzt. So wie man beim einem Hirntoten annimmt, die Person sei gestorben, und dem gerade noch lebenden Körper dürfen Organe entnommen werden, ist umgekehrt keine Person bei einem Embryo im 8-Zell-Stadium denkbar. Das "Ich" ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht entstanden.

Jedoch lässt sich auch die Kontinuität unseres so verstandenen "Ichs" in der Zeit anzweifeln. Man könnte meinen, es wären die Erinnerungen, der gesamte Schatz an Lebenserfahrung, den ich angesammelt habe, der von mir zurückgelegte Weg, der "mich" ausmacht. Oder meine Charaktereigenschaften, die meine Persönlichkeit beschreiben? Beides überzeugt nicht ganz: Unsere Erinnerungen an die Vergangenheit schwinden, je mehr wir uns auf unserem Lebensweg fortbewegen. An besondere Erlebnisse können wir uns noch erinnern, aber den Rest vergessen wir. Nur die aktuellen Ereignisse sind noch halbwegs präsent. Oder kannst Du Dich noch daran erinnern, was Du vor 8, 18, 28 Jahren so gemacht hast, was Dir wichtig war, was Dich herumgetrieben hat? - Höchstens in sehr groben Zügen. Auch unser Charakter ändert sich ständig - ohne dass wir uns darüber im Klaren sind. Jetzt gerade fühlen und benehmen sich die meisten von uns doch erheblich anders als in der Pubertät. Was bleibt also über die Zeit übrig? Vielleicht ist diese - möglicherweise unterbewusste - Sehnsucht nach Konstanten in einem sich ständig veränderten Selbstbild und Selbstverständnis das, was unsere Vorfahren zu der Annahme veranlasst hat, es gäbe irgendeine mysteriöse "Seele", die immer dieselbe bleibt, trotz aller äußeren und inneren Veränderungen in uns.

Die Annahme einer "Seele" beantwortet aber nichts, sondern ist - genauso wie der Begriff eines Gottes - eine Joker-Karte ohne richtige Bedeutung. Wir sind nun mal ein Geist in der Maschine des Körpers - aber auch insoweit nichts Konstantes, nichts Identisches, sondern etwas Diffuses, sich ständig Veränderndes, Anpassendes und sich Fortentwickelndes - wie das Leben höchstselbst.

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