Montag, 28. Januar 2008

Der nicht allzu freie Wille

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Entschieden? Und wenn ja – aus freien Stücken?


Wer über eigene Gedanken nachdenken und über eigene Entscheidungen entscheiden will, kommt schnell in Schwierigkeiten. So ist auch die alte Frage nach dem "freien Willen" des Menschen viel diskutiert, aber bis heute nicht letztverbindlich gelöst worden. Der freie Wille des Menschen wurde in der westlichen Theologie und Philosophie seit St. Augustin zur Erklärung dafür bemüht, warum Gott trotz seiner angeblichen Güte und Allwissenheit den Sündenfall mit all seinen Konsequenzen hat geschehen lassen; er galt auch als ein wesentlicher Unterschied zwischen dem „göttlich beseelten“ Menschen und den „einfältigen“, instinktgetriebenen Tieren. Die neuesten Ergebnisse der Hirnforschung bringen etwas mehr Licht in die Debatte und können den Streit aus bloß theoretisch-abstrakten Erörterungen der letzen Jahrhunderte ein wenig auf den Boden der Tatsachen bringen.

Etwas zu wollen, ist das Natürlichste der Welt. (Es gibt eine auf eine makabre Weise lustige Krankheit, aufgrund der Menschen wirklich nichts mehr wollen - und es sie aber gar nicht stört). Jedoch gibt es hier zunächst die überraschende Erkenntnis, dass unser "Wille" weitaus seltener aktiv wird, als wir annehmen. Zu viele Prozesse laufen automatisch ab, bedingt teilweise durch skurrile Kleinigkeiten. So hat John Bargh von der Uni Yale in einem Experiment gezeigt, dass Studenten, wenn sie altersbezogene Worte wie "Falten, grau, müde, krank" lasen, im Anschluss darauf langsamer gingen als eine Vergleichsgruppe. Sie machten sich damit die eben gelesenen Attribute zu eigen, ohne sich dessen auch nur im Geringsten bewusst zu werden. Menschen, auf die von einem Plakat (!) ein paar Augen hinabschauten, benahmen sich unbewusst ehrlicher als sonst, wurde in einem anderen Versuch festgestellt. Personen, die sich in einen Professor hineinversetzt hatten, schnitten bei Trivial Pursuit besser ab als die, die einen Fußball-Hooligan vor den Augen hatten. Und selbst die (idealerweise) freiste und wohlüberlegteste Entscheidung, die es geben kann - ein Richterspruch - hängt offenbar zu einem Großteil doch von ganz profanen Faktoren wie dem Hungergefühl ab. Wir haben uns selbst also schon ganz allgemein viel weniger unter Kontrolle, als wir glauben.

Aber wenn der Mensch mal dazu kommt, sich bewusst zu entscheiden, und die Entscheidung "frei" sein soll, setzt dies zunächst voraus, dass er bei der Entscheidungsfindung keinen von ihm empfundenen Zwängen unterliegt - darin sind sich alle einig. Wenn er will, kann er den rechten Finger heben – oder den linken. Ein Verbrechen begehen – oder gesetzestreu bleiben. Reicht das schon für die Annahme der Willensfreiheit? Oder soll die Entscheidung vielmehr frei von jeglichen Beschränkungen, ja Ursachen, aus einer Art autonomen, unabhängigen Black Box entspringen? Wohl nicht - denn das Universum unterliegt kausalen Prozessen. Und so hat die Neurophysiologie in den letzten Jahren eins völlig unbestritten gezeigt: dass alle Denkprozesse eine naturalistische Grundlage in Gehirnaktivitäten haben. Eine Entscheidung als elektrochemischer Vorgang im menschlichen Gehirn muss also ebenfalls streng kausal bedingt sein. Eine "Entscheidung", bei der das Gehirn kraft "freien Willens" die Gesetze der Physik verlässt und sich nicht-kausal und damit gleichsam zufällig entscheidet, würde alles andere sein als meine eigene. Es wäre eine Nicht-Entscheidung, ein aus dem Vakuum entspringender Prozess, dem ich erstaunt zuschauen würde. Eine Entscheidung wird erst dann "frei", wenn sie durch mich (durch meine bisherigen Erlebnisse, Charaktereigenschaften, gegenwärtige Stimmung etc.) bedingt ist. Voraussetzung der so verstandenen Freiheit (besser: Selbstbestimmtheit) ist damit ironischerweise Determination.

Eckart von Hirschhausen hat es treffend ausgedrückt - das Bewusstsein ist nicht die Regierung, es ist eher der Regierungssprecher, der die bereits getroffenen Entscheidungen in schöne Worte kleiden und nach außen vertreten muss. Das macht auch aus der evolutionstheoretischen Sicht Sinn: Die Annahme eines Bewusstseins, das das Unbewusste vollständig unter Kontrolle hat, ist nicht plausibel. Denn der Bereich des Gehirns, der für das Bewusstsein verantwortlich ist (Großhirnrinde oder Cortex), ist um Hunderte von Jahrmillionen später entstanden als das ursprüngliche, unbewusst instinktgetriebene „Reptiliengehirn“. Dass der „Neuling“ gleich die Kontrolle über den ganzen „Laden“ übernimmt, wäre – wie auch im realen Leben – wenig wahrscheinlich. Zudem sind mit der Zeit immer mehr geistige Phänomene, die früher als unerklärbar oder sogar Ausdruck des Spiels böser Mächte galten - etwa Epilepsie - auf eine naturalistische Grundlage gestellt und "entzaubert" worden. Ist aber eine unheimliche äußere Macht keine Ursache für neurologische Prozesse mehr - wie kann es dann eine unheimliche innere Macht sein, die die Naturgesetze in den Nervenverschaltungen überwindet?
 
Und ja - es entstehen durch ein Zusammenspiel von vielen kleinen "dummen" Dingen oft neue, umfassendere, komplizierte Phänomene. Ein Wassermolekül ist nicht nass, aber Wasser schon. Eine Ameise hat nicht die Eigenschaften einer schlauen Ameisen-Kolonie. Man spricht hier von "Emergenz", von Dingen, die auf höherer Ebene entstehen. Die Willensfreiheit kann man aber nicht durch solch eine Emergenz begründen, denn die kleinsten Elemente bleiben auch beim Wasser und bei der Ameisenkolonie immer gleich. Ein neues, emergentes Phänomen kann  niemals die kleinsten Bestandteile und ihr Wesen verändern. Eine als frei empfundene Entscheidung kann daher nicht von oben herab auf die Gehirnzellen "einwirken" und deren elektrochemische Funktionsweise plötzlich in "Freiheit" umbauen.

Und nun? Sind wir also alle Roboter, Puppen und Bio-Mechanismen? Zu einem gewissen Grad schon, denn unsere Entscheidungen sind determiniert – auch wenn wir aufgrund der irrsinnigen Komplexität des menschlichen Gehirns sie nie mit Sicherheit werden vorhersagen können. Das macht aber nichts - wir haben (im Gegenstz zu echten Robotern) einen Willen, den wir subjektiv - völlig zu Recht - als frei bezeichnen würden. Wir haben Gründe, die uns zu Handlungen bewegen. Lässt man jedoch einen Menschen eine Entscheidung treffen und spult man dann die Zeit 100 Mal zurück, gibt es gute Gründe anzunehmen, dass er 100 Mal sich genau gleich entscheiden wird - im vollen Bewusstsein, frei zu handeln. Das ist der verwirrende, aber miteinander trotzdem zu vereinbarende Widerspruch zwischen der Erste- und der Dritte-Person-Perspektive. Um den großen Schopenhauer leicht abzuwandeln: Wir können zwar tun, was wir wollen, aber wir können nur das wollen, das wir in diesem Moment zwingend wollen müssen.
(Siehe hier zu den Auswirkungen des fehlenden Anders-Handeln-Könnens auf das Strafrecht)

Mittwoch, 9. Januar 2008

Von Äxten, Schiffen und Seelen

"Das ist die Axt meines Großvaters", pflegen Amerikaner manchmal zu sagen. "Ihr Kopf wurde zwar schon dreimal ausgetauscht und ihr Griff viermal, aber es ist immer noch dieselbe gute alte Axt meines Großvaters". Dieser augenzwinkernde Spruch ist eine gute Einführung in das Problem der Identität. Was meinen wir, wenn wir "dasselbe" sagen? Und was muss man verändern, damit "dasselbe" zu lediglich "dem Gleichen" wird? Eine ältere, etwas zivilisiertere Variante der Fragestellung ist neben vielen anderen Metaphern das sog. Schiff des Theseus, bekannt geworden in einem Werk von Thomas Hobbes, aber erdacht wahrscheinlich schon von Plutarch. Nehmen wir an, es fährt ein Schiff aus dem Hafen A. Während es segelt, verrotten nach und nach alle Planken, aus denen es besteht. Sie werden jedoch dann umgehend durch neue ersetzt. Als das Schiff im Hafen B ankommt, besteht das Schiff aus keiner einzigen "Original-Planke" mehr, da alle inzwischen durch neue ausgetauscht wurden. - Ist es immer noch "dasselbe Schiff"? Wenn man aus den neuen Bauteilen gleich am Anfang ein zweites Schiff gebaut hätte, würden wir bestimmt sagen - nein, es sei nicht dasselbe Schiff, nur ein baugleiches. Aber wenn die Planken nach und nach in das alte Schiff eingebaut werden, wie in unserem Beispiel, dann tendieren die meisten dazu zu sagen, das ankommende Schiff im Hafen B sei dasselbe. Warum? - Es hat dieselbe Identität, dieselbe Geschichte.

"Ich" ist eins der meistbenutzen Worte in unserer Sprache, doch was meinen wir eigentlich damit? Was veranlasst uns dazu zu sagen, wir sind "derselbe Mensch wie vor einem Jahr"? Unser Körper? - bestimmt nicht. Denn wie im Schiff des Theseus wird unser "Baumaterial" regelmäßig erneuert - alte Zellen sterben ab, neue entstehen an ihrer Stelle, die genauso aussehen und genau dieselbe Funktion erfüllen - wie die Bretter des Schiffs. Unser Körper - und das ist die gute Nachricht für alle, die nicht altern wollen - wird nie älter als 7 - 10 Jahre. Lediglich einige Nervenzellen im Gehirn bleiben immer die alten. Statistisch gesehen sind sie jedoch vernachlässigenswert. Und selbst in diesen "änderungsresistenten" Zellen werden die Bausteine - organische Moleküle - immer wieder ausgetauscht. Einer konstanten Körperlichkeit würden wir also vergeblich hinterherjagen - die gibt es nicht. Zudem würde sie unserem Bild vom "Ich", dem denkenden, fühlenden Wesen, das jeder von uns ist, nicht gerecht werden. Denn ohne Bewusstsein sind wir nichts als austauschbares organisches Gewebe.

Bei den sog. "siamesischen Zwillingen" denken wir alle zu Recht, dass zwei Ichs in einem Körper vereint sind. Unsere Identität und Individualität hat demnach nur indirekt etwas mit unseren Körpern zu tun - entscheidend ist der Geist. Das "Ich" als Person entsteht frühestens, wenn das Bewusstsen einsetzt. So wie man beim einem Hirntoten annimmt, die Person sei gestorben, und dem gerade noch lebenden Körper dürfen Organe entnommen werden, ist umgekehrt keine Person bei einem Embryo im 8-Zell-Stadium denkbar. Das "Ich" ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht entstanden.

Jedoch lässt sich auch die Kontinuität unseres so verstandenen "Ichs" in der Zeit anzweifeln. Man könnte meinen, es wären die Erinnerungen, der gesamte Schatz an Lebenserfahrung, den ich angesammelt habe, der von mir zurückgelegte Weg, der "mich" ausmacht. Oder meine Charaktereigenschaften, die meine Persönlichkeit beschreiben? Beides überzeugt nicht ganz: Unsere Erinnerungen an die Vergangenheit schwinden, je mehr wir uns auf unserem Lebensweg fortbewegen. An besondere Erlebnisse können wir uns noch erinnern, aber den Rest vergessen wir. Nur die aktuellen Ereignisse sind noch halbwegs präsent. Oder kannst Du Dich noch daran erinnern, was Du vor 8, 18, 28 Jahren so gemacht hast, was Dir wichtig war, was Dich herumgetrieben hat? - Höchstens in sehr groben Zügen. Auch unser Charakter ändert sich ständig - ohne dass wir uns darüber im Klaren sind. Jetzt gerade fühlen und benehmen sich die meisten von uns doch erheblich anders als in der Pubertät. Was bleibt also über die Zeit übrig? Vielleicht ist diese - möglicherweise unterbewusste - Sehnsucht nach Konstanten in einem sich ständig veränderten Selbstbild und Selbstverständnis das, was unsere Vorfahren zu der Annahme veranlasst hat, es gäbe irgendeine mysteriöse "Seele", die immer dieselbe bleibt, trotz aller äußeren und inneren Veränderungen in uns.

Die Annahme einer "Seele" beantwortet aber nichts, sondern ist - genauso wie der Begriff eines Gottes - eine Joker-Karte ohne richtige Bedeutung. Wir sind nun mal ein Geist in der Maschine des Körpers - aber auch insoweit nichts Konstantes, nichts Identisches, sondern etwas Diffuses, sich ständig Veränderndes, Anpassendes und sich Fortentwickelndes - wie das Leben höchstselbst.